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2021-08-28 Naturexkursion Waldgrenze (Prättigau)

Manuela Cimeli

Unter der Leitung von Matthias Zubler vom Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden wanderten wir bei kühlen Temperaturen und leicht nebligem Frühherbstwetter in Stels, Mottis los. Geplant war, dass wir via den Stelsersee hoch zum Chrüz wandern und dann nach Pany absteigen. Obgleich es im Laufe unserer Tour immer wieder regnete und kühl war, wurde es für die Teilnehmenden nie langweilig, denn Matthias wusste immer wieder etwas zu erzählen: Vom Schneeschimmel, der sich auf den jungen Fichten bildet, wenn sie zu lange unter dem nassen, schweren Frühlingsschnee ausharren müssen, vom sogenannten Wöschchrut, wie der Schachtelhalm in der Region genannt wird oder er erklärte, dass die bräunlich verfärbten Nadelspitzen auf einen Pilz hindeuten.

Er verwies auf die charakteristischen Eigenheiten der die verschiedenen Höhenstufen besiedelnden Bäume: So wurzelt die Weisstanne sehr tief und verankert dadurch nicht nur den Baum, sondern ist auch ein guter Anker für den umliegenden Boden. Leider sind die Triebe der jungen Weisstanne beim Schalenwild (Reh, Hirsch, Gams, Steinbock) ein beliebter Leckerbissen, so dass sie an vielen Orten Mühe hat, sich zu etablieren. Im Gegensatz zu den tief wurzelnden Weisstannen stehen die flach wurzelnden Fichten. Deren tellerförmiges Wurzelwerk kann sich nicht so gut verankern und dadurch ist die Sturmresistenz der Bäume geringer. So kann es vorkommen, dass stark und gesund aussehende, grosse Fichten nach Starkregen oder einem Unwetter mitsamt einem ganzen Hang abrutschen. Auch sogenannte Fichten mit Säbelwuchs weisen auf Hangbewegungen oder drohende Hangrutschungen hin. Sichtbar sind dabei grosse, gesunde Fichten, die sich säbelförmig über den Boden zum Hang hin neigen. Als wir eine solche säbelförmige Fichte sahen, erklärte Matthias, dass die Erd- und Humusschicht in diesem Gebet nicht allzu dick sei und schon bald die Schieferschicht folge. Auf der Schieferoberfläche läuft das Wasser bei Regen einfach ab und versickert nicht. Dadurch bildet sich eine seifige Schicht, auf welcher die darüberliegende Erdschichten zusammen mit den nicht tief wurzelnden Bäumen hangabwärts rutschen.

Die gegenwärtige Klimaerwärmung führt dazu, dass sich Flora und Fauna zunehmend aufwärts bewegen. Mittel- bis langfristig wird sich die Landschaft im Talboden und in Flusslandschaften in eine steppenartige Umgebung mit Gebüsch und grasartigem Bewuchs wandeln. Dann werden wir auch in unserer Klimazone eine untere Baumgrenze haben. Am Bergfuss wird sich der Mischwald (Buchen, Eichen, Ahorn) etablieren, weiter oben werden die Nadelwälder mit den Fichten und Tannen folgen und zuoberst die Föhren und Lärchen bevor wir auf die alpinen Rasen stossen. Diese Abfolge ist bereits jetzt typisch für die Waldgesellschaften der verschiedenen Höhenstufen - allerdings wird sich die Höhe der Waldgrenze nach oben verschieben.

Trockenheit und Wärme sind ideale Bedingungen für den Borkenkäfer, der sich in den Wäldern massenhaft vermehrt hat. Der diesjährige feuchte Sommer stellt diesbezüglich für den Wald eine erfreuliche Ausnahme dar, von der die Wälder voraussichtlich die nächsten Monate zehren und sich ein wenig erholen können. Die Förster stehen zurzeit vor der Herausforderung, an die verschiedenen Standorte angepasste Baumarten zu fördern. Die NZZ berichtete am 31. August in einem Artikel darüber, dass die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) eine neue Online-Karte erarbeitet hat, in der 56 der 150 in der Schweiz verbreiteten Baumarten aufgeführt sind, und welche anzeigt, wo in der Schweiz welche Baumarten theoretisch günstige Wachstumsbedingungen vorfinden könnten (LFI - Potentielle Verbreitung der häufigsten Gehölzarten des Schweizer Waldes). Solches Wissen ist wertvoll vor dem Hintergrund der fortschreitenden Klimaerwärmung, der Bedrohung von Lebensräumen geschützter Arten und im Zusammenhang mit den Veränderungen, die der Wald aufgrund der steigenden Temperaturen erlebt.

Im Ökosystem Wald haben aber natürlich auch die Tiere ihren Platz, und zwar sowohl die Weidewirtschaft als auch die Wildtiere. Durch den starken Rückgang der beweideten Flächen, vor allem in den oberen Höhenstufen kurz vor der oberen Waldgrenze, verbreitet sich grossflächig die Grünerle, deren Bekämpfung sehr schwierig ist. Sie wird praktisch nur von Ziegen oder dem Engadiner Schaf gefressen beziehungsweise 'geringelt' (die Schafe fressen die Rinde ab und dadurch stirbt das Gehölz). Auch der Wolf ist ein wichtiger Vertreter dieses Ökosystems, der dafür sorgt, dass das Schalenwild nicht überhand nimmt und den Wald allzu sehr schädigt. Der Wald-Wild-Bericht Herrschaft/Prättigau vom 2. Juli 2021 (Wald-Wild-Berichte - Wald und Wild (gr.ch)) zeigt auf, dass ungefähr 60% der Waldfläche der Bündner Herrschaft und des Prättigaus aufgrund des zu grossen Einflusses des Schalenwilds als Problemflächen bezeichnet werden müssen. In diesen Waldflächen ist die natürliche Verjüngung des Waldes nicht gesichert und die Funktion des Waldes (z.B. Schutzfunktion gegen Lawinenniedergänge und Steinschlag) ist in Frage gestellt oder stark eingeschränkt.

Als wir geschützte Feuchtgebiete und Heidelbeerwälder durchqueren, weist Matthias auf deren Seltenheit hin und vor allem deren Wichtigkeit für Rauhfusshühner, wie beispielsweise Birk-, Hasel- oder Auerhühner. Der lichte Wald, die schmackhaften Heidel- und Preiselbeeren sowie aus dem Erdreich ragende Wurzelstöcke, aus deren sandigen Wurzeln die Hühnervögel die sogenannten Magenkiesel oder den Splitt für ihre Verdauung aufnehmen können, gibt es nicht mehr viele in der Schweiz. Sie werden im Winter für Schneesportler abgesperrt, so dass die Vögel im Schnee und während der Balz in Ruhe gelassen werden.

Da uns laut Wetterradar am Nachmittag heftiger Niederschlag und Gewitter drohen, entschieden wir, nach St. Antönien abzusteigen. Als sich der Nebel lichtete, erblickten wir die Lawinenverbauungen oberhalb von St. Antönien (13 km Beton-/Stahlbauten), welche in den 50er Jahren errichtet wurden, um das Bergdorf vor den Schneemassen zu schützen. Inzwischen hat sich die Lawinengefahr eher verschärft, denn der Schutzwald ob St. Antönien weist an vielen Orten Verbissschäden auf - und in absehbarer Zeit sollten die Lawinenverbauungen erneuert werden. Es ist ein trügerischer Schutz.

Glücklicherweise erreichen wir die ehemalige Walsersiedlung St. Antönien vor dem Niederschlag und hatten noch Zeit zum Einkehren. Ein herzliches Dankeschön an Matthias Zubler für sein Engagement und die spannende Tour, auf der wir viel Wissenswertes über den Wald und seine Bewohner erfahren durften!